Die Rhetorik des Widerstands

Widerstand ist in fiktionalen wie realen Kontexten niemals stumm. Er bedient sich Sprache – nicht nur als Ausdruck, sondern als Waffe. Die Rhetorik des Widerstands bezeichnet die sprachlichen, symbolischen und performativen Mittel, mit denen unterdrückte Individuen oder Gruppen sich gegen Macht, Kontrolle und Ungerechtigkeit zur Wehr setzen. In der Literatur ist sie zentraler Bestandteil politischer und dystopischer Erzählungen. Sie manifestiert sich in Reden, Zeichen, Gesten – und manchmal im Schweigen.

In Reto Leimgrubers Die Gladiatrix – Im Schatten der Gerechtigkeit wird Sprache anfangs zur Kontrolle genutzt – später aber von der Hauptfigur Sharon zunehmend selbst beansprucht, um sich aus der Rolle der funktionalen Kämpferin zu befreien.

Definition: Was ist Rhetorik des Widerstands?

Die Rhetorik des Widerstands ist die gezielte sprachliche Strategie zur Infragestellung oder Unterminierung bestehender Machtverhältnisse. Sie kann öffentlich, privat, literarisch oder nonverbal auftreten. Zu ihren Ausdrucksformen gehören:

  • Kampfbegriffe (z. B. „Gerechtigkeit“, „Freiheit“, „Würde“)
  • Subversion durch Ironie oder Doppeldeutigkeit
  • Reframing – Umdeutung offizieller Begriffe
  • Redeverweigerung als symbolische Ablehnung
  • Gesten und Zeichen mit klarer Bedeutungsfunktion (z. B. der erhobene Dreifingergruß in Die Tribute von Panem)

Die Rhetorik des Widerstands ist dabei immer ein Akt der Autonomie – selbst unter Zwang.

Sprache als Herrschaftsmittel – und als Gegenmacht

In totalitären oder technokratischen Systemen ist Sprache häufig kontrolliert. Durch Wortwahl, Framing und Zensur wird das Denken gelenkt (Neusprech in 1984 ist ein Paradebeispiel). Der Widerstand beginnt daher oft mit dem Akt der sprachlichen Aneignung:

  • Verbotene Wörter werden wiederverwendet.
  • Verpflichtende Formeln werden unterwandert.
  • Narrative werden umgeschrieben.

In Die Gladiatrix beginnt dieser Prozess schleichend: Sharon übernimmt bestimmte Begriffe („Gerechtigkeit“, „Befehl“, „Pflicht“) zunächst unkritisch – doch im Verlauf des Romans verändern sich ihre Deutungen. Sie entdeckt, dass Sprache nicht neutral ist – und beginnt, sie umzudeuten.

Performative Rhetorik: Gesten, Schweigen, Körper

Nicht jede Rhetorik ist verbal. Gerade in stark reglementierten Welten wird Widerstand durch Körpersprache, Gesten oder bewusstes Verhalten ausgedrückt.

Beispiele:

  • Verweigerung eines Grußes
  • Blickkontakt oder dessen Vermeidung
  • Nichtbeantwortung einer Frage
  • Körperspannung als Signal der Abgrenzung

Sharon nutzt diese Formen aktiv: Ihr Schweigen vor Vorgesetzten, ihr Blick in die Kamera, ihre Zurückhaltung gegenüber Elena – all das sind Elemente einer Körpersprache, die nicht Zustimmung bedeutet, sondern inneren Bruch. Ihre körperliche Präsenz wird zur Rhetorik des Widerspruchs.

Narrative des Widerstands: Geschichten gegen das System

Eine weitere Form rhetorischen Widerstands ist das Erzählen alternativer Geschichten. Autoritäre Systeme versuchen, die Realität zu kontrollieren – durch Medien, Geschichte und Sprache. Der Akt des eigene Geschichte Erzählens ist deshalb bereits subversiv.

In Die Gladiatrix wird dies besonders deutlich, als Sharon beginnt, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern – und diese Erinnerung zu rekonstruieren. Der Bruch mit der offiziellen Geschichte ihres Daseins („Du bist Nummer I“) ist ein Akt sprachlicher Befreiung: Sie beginnt, ihre eigene Version von Wahrheit zu formulieren.

Der Sprachwandel als Indikator für innere Transformation

In vielen Thrillern und dystopischen Romanen verändert sich die Sprache der Hauptfigur parallel zur inneren Wandlung. Anfangs militärisch, distanziert, neutral – später emotional, reflektiert, rebellisch. Auch bei Sharon in Die Gladiatrix ist dieser Wandel spürbar:

  • Kurze Befehle weichen Fragen.
  • Berichtssprache wird zu Erzählung.
  • Funktionale Begriffe wie „Zielperson“ oder „Mission“ werden durch persönliche Begriffe ersetzt – „Mensch“, „Entscheidung“, „Verantwortung“.

Dieser Sprachwandel ist die eigentliche Rhetorik des Widerstands: nicht laut, aber unaufhaltsam.

Interpersonelle Rhetorik: Dialoge als Widerstand

Widerstand geschieht oft im Dialog – auch wenn dieser asymmetrisch ist. Der einfache Satz „Ich glaube dir nicht“, gesprochen zur Autoritätsfigur, kann mehr auslösen als eine ganze Rebellion. In Die Gladiatrix sind es einzelne Dialoge – etwa mit Mike oder Ava –, die Sharons Denkweise verändern.

Wirkung dieser Gespräche:

  • Destabilisierung des Systems: Zweifel wird gesät.
  • Rehumanisierung: Sharon entdeckt Empathie.
  • Solidarität: Widerstand wird zum „Wir“, nicht nur zum „Ich“.

Rhetorik als Überlebensstrategie

In extrem repressiven Systemen ist Sprache nicht nur Ausdruck – sie ist Überlebensstrategie. Figuren lernen, mit doppeltem Boden zu sprechen, zu verschleiern oder mit einem Satz viele Bedeutungen zu transportieren. Diese Art der Kommunikation schafft:

  • Schutzräume
  • Allianzen
  • Andeutungen für Eingeweihte

Auch in Die Gladiatrix benutzt Sharon Sprache taktisch – aber je mehr sie sich befreit, desto direkter wird ihre Sprache. Das ist ein literarisches Zeichen für ihre Wandlung: vom Werkzeug zur Sprecherin ihrer eigenen Wahrheit.

Fazit

Die Rhetorik des Widerstands ist ein zentrales Motiv in fiktionalen Welten, die Macht, Kontrolle und Repression inszenieren. Sie zeigt, dass Worte nicht nur Information sind, sondern Handlung – und dass Sprache selbst eine Form des Widerstands sein kann. In Die Gladiatrix ist Sharon zunächst sprachlich domestiziert – aber sie entwickelt ihre eigene Stimme, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Geschichte. Und damit wird sie mehr als eine Kämpferin: Sie wird zur Erzählerin ihres Widerstands.