Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine psychische Erkrankung, die als Folge extremer seelischer Erschütterungen auftreten kann – beispielsweise durch Gewalterfahrungen, Krieg, Folter oder sexualisierte Gewalt. In der Literatur dient die Darstellung von PTBS zunehmend dazu, Figuren realistischer und psychologisch tiefgründiger zu gestalten. Sie steht für innere Brüche, moralische Ambivalenz und den langwierigen Kampf um seelische Stabilität.
In Reto Leimgrubers Die Gladiatrix – Im Schatten der Gerechtigkeit ist die Protagonistin Sharon ein prägnantes Beispiel für eine literarische Figur mit stark ausgeprägter PTBS-Symptomatik. Ihre emotionale Abflachung, Flashbacks, dissoziativen Zustände und ambivalente Selbstwahrnehmung sind typisch für das klinische Bild dieser Erkrankung – und zeigen eindrucksvoll, wie tief Traumata die Wahrnehmung und das Handeln einer Person prägen können.
Was ist PTBS?
Die PTBS ist eine anerkannte Diagnose im Klassifikationssystem ICD-10 (F43.1) sowie im DSM-5. Sie entsteht nach dem Erleben oder Beobachten eines traumatischen Ereignisses, das mit intensivem Gefühl von Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen einhergeht.
Typische Symptome:
- Intrusionen (Flashbacks): Wiedererleben des Traumas in Form von Bildern, Träumen oder körperlichen Empfindungen
- Vermeidungsverhalten: Meidung von Orten, Personen oder Gedanken, die an das Ereignis erinnern
- Hyperarousal: Übererregbarkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme
- Dissoziation: Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper oder der Umwelt
- Emotionale Taubheit: Abgeflachtes Affektspektrum, Gefühl der Leere, Unfähigkeit zu Freude
Diese Symptome können über Monate oder Jahre anhalten und das Leben massiv beeinträchtigen.
PTBS als literarisches Mittel
In der Literatur wird PTBS häufig verwendet, um:
- psychische Tiefe zu erzeugen
- Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen
- moralische und emotionale Konflikte darzustellen
- den Heilungsprozess als narrative Entwicklung zu inszenieren
Gerade in der Thriller- und Kriegsromanliteratur sind PTBS-Figuren verbreitet – etwa traumatisierte Soldaten, Überlebende von Gewalttaten oder Opfer von Missbrauch.
Sharon als Fallbeispiel: PTBS in „Die Gladiatrix“
In Die Gladiatrix ist Sharon von frühester Kindheit an Gewalt, Isolation und systematischer Gehirnwäsche ausgesetzt. Ihre Erinnerungen sind fragmentarisch, ihre Reaktionen oft automatisiert. Dies deutet auf eine schwerwiegende Form der PTBS mit dissoziativen Anteilen hin.
Anzeichen für PTBS bei Sharon:
- Dissoziation: In Kampfsituationen schaltet sie auf „Autopilot“. Gefühle werden unterdrückt, Bewegungen scheinen automatisiert. Sie ist „nicht ganz da“.
- Intrusionen: Erinnerungen an Training, Schmerzen, Blut und Kontrollverlust tauchen ungewollt auf – oft ohne chronologische Ordnung.
- Emotionale Abstumpfung: Sharon empfindet keine Freude, kaum Schmerz – selbst das Töten löst keine Schuld aus. Erst im Kontakt mit Ava oder Mike zeigen sich wieder Empfindungen.
- Misstrauen und Übererregung: Sie scannt jede Umgebung, reagiert auf Geräusche übermäßig sensibel und ist ständig in Alarmbereitschaft.
- Identitätsstörung: Sie bezeichnet sich selbst nicht als „Sharon“, sondern als „Nummer I“ – Ausdruck einer tiefgreifenden Entfremdung.
Diese Darstellung macht ihre Figur authentisch und tragisch zugleich – sie ist nicht nur Kämpferin, sondern auch Opfer einer psychologischen Zerstörung.
Vergleichbare Figuren in der Literatur
PTBS ist kein seltenes Motiv in der Literatur. Berühmte Beispiele sind:
- Yossarian in Catch-22 (Joseph Heller): ein Pilot mit Verfolgungswahn, Angstzuständen und Desillusionierung
- Katniss Everdeen in Die Tribute von Panem: nach traumatischen Erfahrungen zunehmend apathisch, panisch und misstrauisch
- Joe Coughlin in Live by Night (Dennis Lehane): Veteran mit Schuldgefühlen und Flashbacks
Sharon reiht sich in diese Tradition ein – mit dem Unterschied, dass ihre Störung nicht nach, sondern während des Missbrauchs aktiv bleibt. Ihre PTBS ist Teil eines Kontrollmechanismus, nicht nur eine Folge davon.
PTBS und Gewalt: Täterin oder Opfer?
Ein wesentliches literarisches Dilemma bei PTBS-Figuren ist die Ambivalenz von Opfer- und Täterrolle. Sharon ist tödlich effizient, wirkt kalt und emotionslos – und dennoch ist sie eine zutiefst verletzte Person. Ihre Gewaltbereitschaft ist konditioniert, nicht gewählt.
Dieses Spannungsfeld stellt grundsätzliche Fragen:
- Ist Sharon verantwortlich für ihre Taten?
- Kann sie jemals „normal“ leben?
- Wo beginnt die Heilung – und ist sie überhaupt möglich?
Solche Fragen sind nicht nur literarisch spannend, sondern reflektieren reale Diskussionen in Psychologie und Justiz.
Therapie und Heilung als narrative Entwicklung
In vielen Romanen ist der Heilungsprozess Teil des Spannungsbogens. Auch bei Sharon gibt es erste Hinweise auf Rehumanisierung:
- Emotionale Beziehung zu Ava: Diese emotionale Bindung lässt sie weicher reagieren, empathischer denken.
- Zweifel an Befehlen: Sie beginnt, ihre Taten zu hinterfragen – ein erster Schritt zur Autonomie.
- Widerstand gegen Elena und Crane: Sie distanziert sich innerlich von ihren Peinigern – auch wenn der Weg zur Konfrontation noch lang ist.
Die PTBS wird damit nicht nur als Leiden dargestellt, sondern als potenzieller Ausgangspunkt für innere Wandlung.
Symbolik der PTBS in „Die Gladiatrix“
Die Symptome von PTBS sind in Die Gladiatrix nicht nur psychologische Merkmale, sondern symbolische Ausdrucksformen:
- Dissoziation steht für den Verlust des Selbst.
- Hypervigilanz für die ständige Bedrohung durch das System.
- Emotionale Leere für die künstliche Trennung von Moral und Handlung.
So wird Sharons psychischer Zustand zum Spiegel einer ganzen Welt – einer, in der Empathie als Schwäche gilt und Kontrolle alles ist.
Fazit
Die literarische Darstellung von PTBS ermöglicht es, Figuren mit großer psychologischer Tiefe und moralischer Ambivalenz zu erschaffen. In Die Gladiatrix ist Sharon eine solche Figur: zerbrochen, konditioniert, fremdgesteuert – und doch nicht ohne Hoffnung. Ihre psychischen Symptome sind realistisch, vielschichtig und erschütternd – und machen deutlich, wie tiefgreifend Gewalt und Manipulation in das menschliche Wesen eingreifen können.